Das Nachleben der antiken Aulosmusik in der europäischen und türkisch-arabischen Musik

von

Helmut Brand

 

Da uns der akustische Eindruck der antiken Musik für immer verschlossen bleibt, können wir uns vor allem mit Hilfe der Ethnomusikologie eine ungefähre Vorstellung über den Klang und die Spielweise der antiken Instrumente verschaffen. Im Mittelmeerraum haben sich zwei uralte Instrumente erhalten, die Rückschlüsse auf  auf den antiken Doppelaulos zulassen.

Zurna

Die Zurna ist wie der antike Aulos ein Doppelrohrblatt-Blasinstrument (= Oboeninstrument) und läßt sich bis in frühislamische Zeit zurückverfolgen. Einer der frühesten Belege findet sich auf einer in das 8. Jh. n. Chr. zu datierenden nachsassanidischen Silberschale in St. Petersburg, auf welcher ein Zurnaspieler zusammen mit einem Harfenspieler vor einem Herrscher musiziert. Der 912 gestorbene Chronist Ibn Hurdadbih schreibt die Erfindung der Zurna den Persern zu. Sie ist heute ein im gesamten islamischen Raum zwar weit verbreitetes, aber eher selten gespieltes Instrument, welches sowohl in seiner Größe als auch in seiner Bezeichnung regionale Varianten aufweist, was aufgrund seines großen Verbreitungsgebietes nicht verwundert. In der Türkei wird es überwiegend bei Hochzeits- und Beschneidungsfesten gespielt. Die Musikanten sind ausschließlich männlich und gehören meist der Bevölkerungsgruppe der Zigeuner an. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die Musik, insbesondere die Instrumentalmusik, im Islam - wie übrigens auch im frühen Christentum - zwar nicht verboten, aber doch unerwünscht ist, so daß ihre Ausübung Mitgliedern gesellschaftlicher Randgruppen vorbehalten bleibt. Musik ist im Islam ausdrücklich nur bei Hochzeitsfesten erlaubt. Trotzdem sind die Türken ein sehr musizierfreudiges Volk, wie jeder Tourist leicht feststellen kann, vor allem, wenn man sich abseits der touristischen Kernzonen aufhält. In der Türkei besteht ein Zurna-Ensemble immer aus zwei Zurna- und einem Davulspieler (Davul =  zwei-fellige Trommel). Anders als der antike Aulos werden die modernen Instrumente aber von zwei Musikanten bedient. Der eine bläst dabei einen Bordunton (= lang anhaltender Grundton), während der andere die Melodie spielt. Zu weiteren Gemeinsamkeiten mit dem antiken Doppelaulos erscheint im  Frühjahr 2003 vom Verfasser dieser Seite ein Aufsatz in den "Studien zur Musikarchäologie Bd. 3" (im Verlag Marie Leidorf).

Wegen ihrer Lautstärke werden die Instrumente ebenso wie häufig die antiken Instrumente im Freien gespielt. Die Zurna ähnelt in ihrem Aufbau mit sechs bis acht Grifflöchern stark dem antiken Aulos, besitzt  aber einen Schalltrichter. Zwischen dem Mundstück und dem Klangrohr ist eine große Scheibe angebracht. Die Zurna hat eine in frühislamische Zeit zurückreichende Tradition und wird häufig wie die antiken Instrumente paarweise gespielt. Wegen des hohen Alters der Zurna und der zahlreichen Übereinstimmungen mit den überlieferten antiken Blasinstrumenten kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß die Zurna ihre Wurzeln in der Spätantike hat und uns eine Vorstellung vom Klang der antiken Blasinstrumente vermittelt.

Launeddas

Das alte sardische Dreifach-Blasinstrument (sic!) Launeddas läßt neben der Zurna durch seinen Aufbau und seine Spielweise weitere Rückschlüsse auf den Klang und die Spielweise antiker Blasinstrumente zu. Die früheste Darstellung zeigt eine kleine Bronzestatuette aus der Nuraghenzeit, allerdings nur mit zwei Rohren (Abb. links). Der Ursprung des Instrumentes wird allgemein im etruskisch-phönizischen Bereich vermutet. Es besteht aus zwei sich in ihrer Länge geringfügig unterscheidenden, mancosedda und mancosa manna genannten Rohren und einem längeren, tumbu genannten Rohr ohne Grifflöcher, auf dem ein Bordunton gespielt wird. Mancosa manna bedeutet "große Röhre", mancosedda ist die Diminutivform (Verkleinerungsform) von mancosa. Die linke Hand hält gleichzeitig die tumbu und die mancosedda, welche auch miteinander verbunden sind, die rechte Hand die mancosa manna. Die beiden Melodierohre werden polyphon gespielt (!) - dies ist wohl ein singuläres Phänomen in der Musikgeschichte. Das Mundstück entspricht – im Gegensatz zur Zurna – dem einer Klarinette( d. h. es besitzt ein einfaches Rohrblatt). Die Verwendung des Instrumentes beschränkt sich auf Sardinien. Während in der europäischen Musikgeschichte der Neuzeit die Doppelung von Blasinstrumenten ungebräuchlich blieb, war sie im Mittelalter durchaus üblich, wie das Fresko von Simone Martini (ca. 1285 bis 1344) mit Darstellungen aus dem Leben des hl. Martin in der Kirche des heiligen Franz von Assisi bezeugt).

 

Auf Sardinien haben sich wegen der langen Isoliertheit, bedingt durch die Insellage, besonders viele archaische, teilweise sogar vorrömische Elemente erhalten, insbesondere bei Tier-, Pflanzen- und Ortsnamen. Die sardische Sprache ist unter den romanischen Sprachen noch am engsten mit dem Latein verwandt, so daß ein des Lateinischen Kundiger ohne größere Schwierigkeiten die sardische Sprache einigermaßen verstehen kann.

Die Etymologie des Wortes Launeddas ist ungeklärt, doch scheint es archaischen Ursprungs zu sein. Die vorrömische Herkunft des Instrumentes wird durch die Bronzestatuette aus der Nuraghenzeit belegt. Auf Sardinien hat sich somit, begünstigt durch seine Insellage, eine sowohl sprachlich als auch musikgeschichtlich eigenständige, stark der antiken Tradition verwurzelte Kulturlandschaft erhalten.

Überlegungen zur Doppelung der Rohre bei Zurna, Launeddas und beim antiken Aulos

In der Musikwissenschaft ist die Frage stark diskutiert, warum der griechische Aulos bzw. die römische Tibia bereits seit frühester Zeit immer paarweise gespielt wurde und welche Rolle dabei die einzelnen Rohre hatten.

Drei verschieden Möglichkeiten kommen in Betracht , wobei sich aufgrund fehlender Notationsbeispiele keine verifizieren läßt:

  • auf beiden Rohren werden verschiedene Töne gespielt (Polyphonie).

  • beide Rohre spielen unisono.

  • ein Rohr spielt einen Bordunton, während auf dem anderen die Melodie gespielt wird.

Eine Zweistimmigkeit kann für die antike griechische Musik allgemein ausgeschlossen werden. Eine auf beiden Rohren gespielte Melodie (unisono) hätte eine klangliche Verstärkung der ohnehin schon sehr lauten Instrumente zur Folge. Im Vergleich mit der Zurna und der Launeddas könnte man vermuten, daß eines der beiden Rohre ein Borduninstrument ist. Gegen diese Annahme spricht allerdings, daß die Griffhaltung beider Hände, den Vasenbildern nach zu urteilen, meist gleich ist. Da die einzelnen Rohre des Aulos fast immer gleich lang sind und einen annähernd gleichen Querschnitt aufweisen, scheint es auch unwahrscheinlich, daß auf beiden im Intervallabstand gespielt wurde.

 

 

Literatur

Zur Zurna:

The New Grove Dictionary of Music and Musicians Bd. 20 (1980) 720 f. s. v. Surna
W. Bryant, Musical Change in Turkish Zurna Music, in: Pacific Review of Etnomusicology 6, 1991, 1-34
K. Reinhard/U. Reinhard, Musik der Türkei Bd. 2. Die Volksmusik (1984) 70 ff.
C. Sachs, The History of Musical Instruments (1940) 120
S. Ziegler, Gender-Spezified Traditional Wedding Music in Southwestern Turkey, in: From Music, Gender, and Culture (Hrsg. M. Herndon/S. Ziegler) (1990) 87 ff.

Zur Launeddas:

Hugo Riemanns Musik Lexikon (Hrsg. A. Einstein) 11(1929) 1003 s. v. Launéddas
Riemann Musik Lexikon. Sachteil (1967) 506 s. v. Launéddas
Dizionario Enciclopedico Universale della Musica e dei musicisti 2 (1983) 669-670 s. v. Launeddas
 Becker 109 ff.; F. Karlinger, Skizze eines Kultinstrumentes, Musica sacra 78, 1958, 43-49
L. Lai, Metodo per launeddas (1996)
G. Lallai, Launeddas. L’anima di un populo (1997)
A. F. Weis Bentzon, The Launeddas. A Sardinian Folk-Musik Instrument (1969).


Aktualisiert am 03. März 2008.

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